Wie können wir theologisch über die Krise sprechen? Oder, wie der baptistische Theologe und Ethiker Roger Olson fragt: “Wo ist Gott in dieser Pandemie?
Eins zur Klarstellung vorweg: Coronavirus ist nicht einer der vier Reiter der Apokalypse - das dort Gemeinte betraf eine ganz andere Zukunft, und aus einer ganz anderen Perspektive. Klagelieder mögen durchaus angebracht sein, aber auf sozialer, politischer oder globaler Ebene setzt Klagen auch ein definierbares Versagen voraus, erfordert dann Bußfertigkeit und schaut dann auf Gottes Reaktion, sein Handeln, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Diese biblische Klage verlangt, dass dass wir unsere Position darlegen…
Die Herausforderung besteht eben darin, unsere ganze moderne Geschichte so zu erzählen, dass sie eine Kontinuität mit der biblischen Geschichte zulässt, dabei die ausufernden Krisen der Globalisierung interpretiert und dem lebendigen Schöpfergott, der für die Christen der Gott der Geschichte sein muss, Präsenz und Stimme verleiht.
Hier sind also noch ein paar weitere biblische Perspektiven.
„Wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr zugrunde gehen.“
Als Reaktion auf Tom Wrights Widerwillen, christliche Antworten auf das Coronavirus zu präsentieren, argumentiert Dan Phillips, dass die Pandemie, neben vielen anderen Dingen, ein Zeichen Gottes ist, das laut und deutlich sagt: “Wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr zugrunde gehen.” Ich persönlich glaube nicht, dass Jesus seine Aussage in diesem Sinne gemeint hat, aber der Abschnitt hat dennoch eine gewisse Relevanz, aber anders…
Unter Bezugnahme auf eine Reihe von Galiläern, die von den Soldaten des Pilatus im Tempel getötet wurden, und auf achtzehn Einwohner Jerusalems, die durch den Einsturz eines Turms in Siloam getötet wurden, weist Jesus darauf hin, dass sie nicht schlimmere Sünder oder Verbrecher waren als alle anderen Einwohner der Stadt (Lk 13,1-5). Wenn sie jedoch nicht alle Buße tun, werden sie alle gleichermaßen zugrunde gehen.
Der Kontext ist offensichtlich. Hier geht es um die Gewalt in Jerusalem: Menschen werden von römischen Soldaten oder von einem fallenden Turm getötet. Jesus warnt daraufhin Israel, dass die gesamte Bevölkerung, wenn die Nation ihren langjährigen Glaubensabfall und ihre Unrechtstaten nicht bereut, auf genau die gleiche Weise untergehen wird, wenn die Stadt von den einfallenden Armeen Roms belagert und alle Gebäude zerstört werden. Einige werden durch das Schwert sterben, andere werden bei der Zerstörung der Stadt sterben.
Dies war damals eine besondere, lokal begrenzte historische Warnung. Jesus hat eben nicht gemeint, dass alle Menschen bildlich “untergehen” - oder in der “Hölle” leiden würden, wenn sie nicht für ihre Sünden Buße tun und an ihn glauben. Das liegt weit außerhalb des Vorstellungs-Rahmens der synoptischen Evangelien.
Heute sind wir mit unseren eigenen, historisch besonderen Krisen konfrontiert, aber sie sind im Unterschied zu biblischen Zeiten nicht lokal begrenzt, sie sind globalisiert; sie bedrohen nicht nur Gottes Volk, sondern auch die Menschheit.
Vielleicht könnte eine prophetische Stimme heute sagen — inspiriert von der Bibel, wie Jesus von den heiligen jüdischen Schriften inspiriert wurde, aber im Bewusstsein, dass die Geschichte weitergegangen ist, wie Jesus sich übrigens dessen auch bewusst war, dass die Geschichte in seiner Zeit weitergegangen ist — Vielleicht könnte Propheten heute sagen, dass die Menschen, die an Covid-19 sterben, nicht schlimmer sind als der Rest der Menschheit, aber wenn wir nicht alle von unserer Gier, unserer Wachstumssucht, unserer irrwitzigen, selbstgefälligen Missachtung des Ökosystems, das uns doch ernährt (!), umkehren, werden wir als Gesellschaft viel schwerwiegenderen Verwüstungen und Zerrüttungen ausgesetzt sein.
Wieso sollten wir annehmen, dass sich die Funktion der Prophetie als zeitgemäßer theologischer Kommentar zu wichtigen historischen Ereignissen geändert hat?
Wenn Roger Olson sinniert, ob das Coronavirus Gottes Gericht über die Menschheit ist, zeigt er sich sehr skeptisch. Aber er verweist auf die zwei (für Evangelikale) bevorzugten Bereiche der Ethik : Sexualethik - Abtreibung und Homo-Ehe - als die anscheinend “offensichtlichen” Gründe für Gottes Missfallen und stellt die kritische Frage, wie irgendein Verkündiger das wohl zweifelsfrei feststellen könnte. Seine eigene Ansicht dazu ist, dass wir lediglich in einer gefallenen Welt leben und dass solche Katastrophen passieren werden.
Persönlich glaube ich nicht, dass Pandemien direkt Gottes Gericht sind, aber mit meinem theologischen Mentor Wolfhart Pannenberg glaube ich, dass sie, zusammen mit allen Katastrophen, auf Gottes Abwesenheit hinweisen.
Mit anderen Worten, er lehnt die willkürlich moralisierende Verbindung mit Abtreibung und Schwulenehe ab und greift, wie Dan Phillips, aber auf eine hochgradig verallgemeinerte (abstrakte) und über-geschichtliche (meta-historisch) Theologie der persönlichen Sünde und des Heils zurück.
Doch was Jesus sagte, liegt meiner Interpretation nach zwischen dem Willkürlichen und dem Übergeneralisierten. Er sah einen echten, politisch bedeutsamen Zusammenhang zwischen dem Verhalten Israels und der vorhergesagten Katastrophe des Krieges. Sein Volk ging tatsächlich blindlings auf einem breiten Weg, der unweigerlich zur (Selbst-)Zerstörung führen würde. Die Krise war nicht beliebig, sondern historisch gut begründet.
Ich kann die Abneigung von Wright, Phillips und Olson gut verstehen, problematisches menschliches Verhalten hervorzuheben. Wir wollen ungern mit dem Finger auf eine bestimmte Gruppe von Menschen zeigen und sie für diese Pandemie verantwortlich machen. Aber die Frage bleibt doch: Wie können wir berechtigterweise mit dem Finger auf uns alle zeigen? Wie sprechen wir über unsere kollektive Verantwortung?
Jesus zeigt uns, wie. Definitiv tut er das. Nur: Sein Modell muss heute noch erweitert werden.
Die Pandemie kann eine Konsequenz des menschlichen Verhaltens auf die natürliche Umwelt sein oder aber auch nicht. Aber so oder so kann sie als ein Hinweis auf das bevorstehende schlimmere ökologische Übel angesehen werden.
Von den beiden Tragödien, auf die sich Jesus bezog,
- war die eine ein direkter Fall römischer Gewalt,
- die andere war zufällig und nicht direkt oder kausal mit dem Krieg verbunden.
Das Auftauchen eines neuartigen Coronavirus zu diesem Zeitpunkt mag ein isoliertes Ereignis sein, aber es gibt uns einen beunruhigenden Vorgeschmack auf den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch, der wahrscheinlich mit einem rasanten Klimawandel und der Umweltzerstörung einhergehen wird.
- Schauen Sie sich diesen hochspannenden Twitter-Thread von Arthur Davis an.
Die Analogie zwischen der Situation, mit der Israel im ersten Jahrhundert konfrontiert war, und der Situation, mit der unsere Menschheit heute weltweit konfrontiert ist, könnte uns auch helfen, über den “Zorn Gottes” angemessen zu sprechen - ein heikles Thema schon in den guten Zeiten, und dies sind wahrlich nicht die angenehmsten Zeiten für solch ein missverständliches Thema:
Die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahre 70 n. Chr. lässt sich historisch so erklären: Die Juden saßen unter fremder Herrschaft in der Klemme; inspiriert von messianischen Hoffnungen erhoben sie sich in einer Revolte gegen Rom; aber die Aufstände wurden niedergeschlagen und Judäa von der Armee des Vespasian brutal bestraft. Viele Juden, darunter auch Jesus und seine Anhänger, verstanden den historischen Prozess in dieser spezifischen Gemengelage als einen Ausdruck des “Zorns” des Bundesgottes JHWH auf sein rebellisches Volk.
Heute ist es nicht Rom oder irgendein anderes Reich, das zurückschlägt, sondern die gesamte natürliche Ordnung. Es ist gewissermaßen der “Zorn” der Natur, der durch die Coronavirus-Pandemie buchstäblich oder bildlich symbolisiert wird. Aber wenn wir glauben, dass der Gott Israels des ersten Jahrhunderts auch der Gott der ganzen Welt ist, der Gott, der unseren kleinen Planeten geschaffen und in den unendlichen Kosmos hinein gehängt hat, warum sagen wir dann nicht, dass die natürliche evolutive Entwicklung eine Ausdrucksweise des “Zorns” des Schöpfergottes gegenüber der Menschheit ist?
In dieser Hinsicht gibt es erstaunlicherweise vielleicht eine angemessenere alttestamentliche Analogie….
Ein Sabbat für das Land
Gott gab Israel das Land als eine neue Schöpfung im Mikrokosmos, inmitten der verschiedenen Völker. Aber die Landgabe blieb ein Geschenk, und der Besitz des Landes durch Israel blieb vom konkreten Verhalten Israels abhängig. Wenn sie in den Statuten von JHWH wandelten und seine Gebote befolgten, würde das Land fruchtbar sein, sie würden sich des Friedens erfreuen, sie würden fruchtbar sein und sich vermehren, und der Gott, der sie aus Ägypten herausgeführt hat, würde unter ihnen wandeln (Lev 26,1-13).
Aber wenn sie die Gebote ignorierten und die Gesetze missachteten, würden sie verheerende Krankheiten, Fieber und Pest, Dürre und Hungersnot, den Verlust von Vieh, militärische Invasion, die Zerstörung von Städten und Heiligtümern hinnehmen müssen; Israel würde unter den Völkern zerstreut werden, und das Land würde verwüstet werden (Lev. 26:14-33).
Nun der interessante Teil….
Für das Land als solches war das Exil Israels nach Babylon eine gute Nachricht. Israel hatte lange Zeit das Gebot missachtet, ein Sabbatjahr einzuhalten, in dem das Land brachliegen und sich ausruhen durfte (Lev 25:27-7). Israel hatte diese zerbrechliche Schöpfung im Kleinstmaßstab (Mikrokosmos) inmitten der Völker übermäßig ausgebeutet und ausgelaugt. Die plötzliche erzwungene Entvölkerung - wieder ein einfaches historisches Ereignis - bedeutete, dass das Land eine Chance hatte, sich zu erholen:
Dann soll das Land seine Sabbate genießen, solange es wüst liegt, während ihr im Land eurer Feinde seid; dann soll das Land ruhen und seine Sabbate genießen. Solange es wüst liegt, soll es Ruhe haben, die Ruhe, die es an deinen Sabbaten nicht hatte, als du in ihm wohnst. (Lev 26:34-35)
In den letzten Wochen, unter unserem Hausarrest, hat das globale Ökosystem eine gewisse Atempause bekommen. Die Umweltverschmutzung ist zurückgegangen, die Wasserwege sind frei, und die Tierwelt hat sich in die Städte gewagt und fragt sich verwundert, was mit uns geschehen ist. Der weltweite Großraum (Makrokosmos) hatte die Chance, sich zu erholen - oder uns zumindest spürbar und eindrucksvoll zu zeigen, wie gut eine Rettung der Umwelt wäre.
Was gibt es zu Ostern zu feiern? Was wirklich?
Und so frage ich mich außerdem, ob ein Teil der prophetischen Botschaft nicht der Appell sein sollte, in irgendeiner Form ein globales “Sabbatjahr” zu begehen, in dem die Industrieproduktion, die Arbeit und die Reisen auf ein Minimum reduziert werden, in dem wir vor Ort bleiben, Zeit mit den Familien verbringen, regelmäßig Sport treiben, Fachleuten des Gesundheitswesens, Müllsammlern und Supermarktarbeitern Beifall klatschen und so weiter… — bevor die Natur uns das wieder einmal aufzwingt, was wir freiwillig nicht einsehen.
Praktisch nicht umsetzbar? Selbstverständlich äußerst schwierig. Aber wann war eine Prophezeiung jemals praxisgerecht oder easy-peasy?
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